Grundlagen und Voraussetzungen für eine fundierte hämostaseologische Diagnostik und Therapie
Um Störungen innerhalb der Hämostase aufdecken und therapieren zu können, ist für einen Arzt eine jahrelange Berufserfahrung in der Klinik, der hämostaseologischen und hämatologischen Laboratoriums-Diagnostik, in der Humangenetik sowie in der Therapie von Hämorrhagien und Thrombembolien erforderlich.
Als Grundvoraussetzungen sind neben klinischen Erfahrungen unbedingt detaillierte Kenntnisse der Biochemie der Hämostase (physiologische und proteinchemische Grundlagen), der Genetik von Hämostasestörungen (molekularbiologische und humangenetische Kenntnisse) sowie der therapeutischen Möglichkeiten zu nennen.
Grundsätzlich unterscheidet sich die Tätigkeit eines Hämostaseologen deutlich von der eines Laboratoriumsmediziners:
Der Laborarzt übernimmt im Auftrag von klinisch tätigen Kollegen die Analyse von Patientenproben zur Abklärung krankhafter Zustände. Ein persönliches Gespräch mit dem Patienten findet hier nicht statt.
Im Gegensatz dazu hat der Hämostaseologe in der Regel direkten Kontakt zu seinen Patienten. Dabei erhebt er im Detail die Vorgeschichte und durchleuchtet das individuelle hämostatische Netzwerk des Patienten. So erkennt der Hämostaseologe krankhafte Veränderungen und setzt aufgrund seiner Diagnose eine gezielte Therapie ein.
Der Hämostaseologe übernimmt damit die eigene Verantwortung für den therapeutischen Verlauf und daher auch für das weitere Schicksal des Patienten.
Der Prozess der Blutstillung
Um einen Einblick in die diagnostischen Erfordernisse der Hämostaseologie zu bekommen, ist es notwendig, den physiologischen Prozess der Blutstillung (primäre und sekundäre Hämostase) kurz zu erklären:
Die Hämostase ist ein nichtlinear arbeitendes Netzwerk, an dem die Gefäße, die Thrombozyten, die gerinnungsfördernden und -hemmenden Faktoren sowie die Fibrinolysefaktoren beteiligt sind. Weit verzweigte Verknüpfungen bestehen zusätzlich zu anderen physiologischen Systemen. Dazu zählen u.a. das Komplementsystem, die Immunglobuline und die Leukozyten.
Unser Organismus hält mit den Gefäßen, den Thrombozyten und der Gerinnung ein blutstillendes Netzwerk vor, das schon bei kleinsten Verletzungen (Zerstörung von Gefäßen) mit großer Geschwindigkeit aktiviert wird und reagiert, um einen Blutverlust erfolgreich zu unterbinden. Pro Tag entstehen bis zu 500.000 kleinste Gefäßdefekte, die – ohne dass man es wahrnimmt – sofort geschlossen werden.
Diagnostik von Störungen der Hämostase
Um Störungen in der Hämostase aufzudecken, ist es unerlässlich, die einzelnen Komponenten und Reaktionspartner des Systems auf ihre Aktivitäten oder Konzentrationen sowie auf ihr Zusammenspiel zu untersuchen.
Als erstes muss eine sorgfältige Anamnese des Patienten und ggf. seiner Verwandten erfolgen. Dazu zählt besonders die Erhebung einer detaillierten Medikamentenanamnese. Dies ist wichtig, da eine nicht unerhebliche Anzahl von Medikamenten störend in den Prozess der Hämostase einwirken kann, ohne dass dieses Phänomen den Patienten oder behandelnden Ärzten bewusst oder bekannt ist.
Die anschließende klinische Untersuchung und die Inspektion von Haut und Schleimhäuten der Patienten ergeben oftmals bereits Hinweise auf den Bereich der Hämostase, in dem ein Defekt zu vermuten ist.
Überprüfung der Gefäßfunktion
Die Testung der Gefäßfunktion ist notwendig, um z. B. angeborene Defekte in der Kollagensynthese zu erkennen (z.B. das Ehlers-Danlos-Syndrom).
Zudem können Defekte oder Mängel an Thrombozyten im Verlauf von Infektionskrankheiten oder Intoxikationen punktförmige Hautblutungen erzeugen.
Großflächige Blutungen dagegen sprechen in der Regel für einen Defekt im plasmatischen Gesinnungssystem.
Finden sich Hinweise, dass das Gefäßsystem abnorm brüchig ist und die kleinen Gelenke des Patienten abnorm überstreckbar sind, so muss dieser Symptomatik intensiv auf den Grund gegangen werden.
Häufig verbergen sich dahinter Syndrome, die aufgrund der abnormen Bindegewebsstruktur der Arterien zu lebensgefährlichen Aneurysmen der hirnversorgenden Gefäße führen. Diese Patienten sind gefährdet, an lebensbedrohlichen Hirnblutungen zu erkranken und zu versterben.
Eine Sicherung der Diagnose erfolgt mittels einer Suche nach pathogenen Mutationen der in Frage stehenden Gene.
Bei einem positiven Befund sind weitere Untersuchungen mit Hilfe bildgebender Verfahren zur Erkennung etwaiger Aneurysmen der hirnversorgenden Arterien zu veranlassen.
Parallel dazu müssen Familienuntersuchungen durchgeführt werden, bei denen auch eine genetische Beratung des Patienten und der betroffenen Familienmitglieder stattfindet.
Die Bedeutung der Thrombozyten für die Hämostase
Eine Untersuchung der Thrombozyten beinhaltet nicht nur die Feststellung ihrer Anzahl, sondern auch ihrer Größe. Angeborene Defekte der Thrombozyten äußern sich häufig bei einer erniedrigten Anzahl in der Bildung von Riesenplättchen.
Weitere Analysen, die die Funktion der Plättchen und den Besatz an Rezeptoren prüfen, sind an dieser Stelle unbedingt erforderlich. Eine endgültige Abklärung erfolgt letztlich über eine DNA-Sequenzierung der wahrscheinlich betroffenen Gene.
Auch in diesen Fällen ist eine Untersuchung und genetische Beratung der möglicherweise betroffenen Familienmitglieder dringend erforderlich.
Neben den seltenen angeborenen Thrombozytopenien und -pathien spielen die erworbenen Defekte in der hämostaseologischen Diagnostik eine wichtige Rolle. Häufig bleiben sie unerkannt, da sie mit den üblichen Basisanalysen eines Routinelabors nicht zu erkennen sind. Sie können aber zu schwersten intraoperativen Blutungen führen. Diesen steht der behandelnde Arzt meist ratlos gegenübersteht, da er ohne hämostaseologisches Consil die Zusammenhänge nicht erkennt und deswegen auch keine Kausaltherapie einleiten kann.
Um die Ursachen für derartige Blutungen zu erforschen, muss ein erheblicher diagnostischer Aufwand betrieben werden. Die technischen Voraussetzungen dafür stehen einem klinisch-chemischen Labor üblicherweise nicht zur Verfügung. Auch mangelt es den Betreibern von Routinelaboratorien häufig an dem notwendigen Fachwissen, um den Klinikern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Die Komplexität des Gerinnungssystems
Um sich einen Überblick über die Intaktheit und Funktionalität des Gerinnungssystems zu verschaffen, müssen sämtliche gerinnungsfördernden Faktoren des exogenen und endogenen Systems in ihren Aktivitäten untersucht werden.
Es ist fahrlässig, sich mit einfachen Suchtesten – wie der Bestimmung des Quickwertes oder der aPTT – zu begnügen. Beide Teste erfassen nur unzureichend die Aktivitäten der am Prozess beteiligten Gerinnungsfaktoren und ermöglichen damit nur einen unvollständigen Einblick in die Hämostase.
Gravierende Normabweichungen, die beide Teste nicht widerspiegeln, können so zum Schaden des Patienten übersehen werden. Überhöhte Aktivitäten einzelner Gerinnungsfaktoren werden eventuell nicht erkannt, die besonders bei Frauen, die die Pille einnehmen, zu Thrombosen und Embolien führen können.
Aber auch verminderte Aktivitäten einzelner gerinnungsfördernden Faktoren, werden regelmäßig bei der ausschließlichen Verwendung von Suchtesten übersehen. Überraschend entstehende Blutungen, z.B intraoperativ oder auch spontan auftretend, sind nicht auszuschließen und wären für den behandelnden Arzt unerklärlich.
Das Gerinnungssystem wird von mehreren antikoagulativen Systemen überwacht, die die Aufgabe haben, das einmal in Schwung gebrachte Gerinnungssystem auf den Ort der Verletzung zu begrenzen. Würden die hochwirksamen Enzyme der Gerinnung – wie das gerinnselerzeugende Thrombin – ins Gefäßsystem verschleppt, wäre eine thrombembolische Katastrophe vorprogrammiert.
Deswegen gehört die Analyse aller Kontrollproteine (Inhibitoren) immer in das Programm der Ursachen-Erforschung von Thrombosen und Embolien.
Aber auch bei Familienangehörigen von Thrombosekranken können diese Untersuchungen indiziert sein, um diese vor möglichen thrombotischen Ereignissen zu schützen.
Gerade bei jungen Frauen, die aus einer mit Thrombosen belasteten Familie stammen, ist die umfassende hämostaseologische Diagnostik vor der Gabe oraler Kontrazeptiva zwingend notwendig, da die meisten dieser Medikamente bei gefährdeten Frauen Thrombosen und Lungenembolien erzeugen können.
Und jede Lungenembolie kann auch die Letzte im Leben des Patienten sein!
Das Zusammenspiel von Pro- und Antikoagulation kann nur dann zufriedenstellend überwacht werden, wenn alle beteiligten Komponenten in ihren Aktivitäten bekannt sind. Verschiebungen innerhalb dieser Systeme, die der einen oder der anderen Seite das Übergewicht geben, führen oft trotz unauffälliger Suchteste zu Blutungen oder Thrombosen.
Ursachenforschung bei autoimmunologischen Erkrankungen
Besondere Aufmerksamkeit erfordern in der Hämastoseologie erworbene Autoimmunprozesse – d.h. die Bildung von Antikörpern gegen körpereigene gerinnungsfördernde oder –hemmende Faktoren – da sie oft mit den herkömmlichen Methoden des klinisch-chemischen Labors nicht erkennbar sind. Diese Antikörper können Gerinnungsfaktoren hemmen, so dass es zu Blutungen oder Thrombosen kommt.
Für die Diagnostik von Autoimmunerkrankungen sind aufwendige Spezialuntersuchungen erforderlich, um die pathogene Wirkung dieser Antikörper zu erkennen und um ihre Aktivität und Konzentration bestimmen zu können.
Ein Beispiel hierfür ist die Hemmkörperhämophilie, für deren Diagnostik besondere Teste entwickelt worden sind, die aus einer Vielzahl von Einzelbestimmungen besteht. Diese Erkrankung tritt meist unerwartet, z.B. bei Frauen in der Schwangerschaft auf und führt zu lebensbedrohlichen Blutungen, die äußerst schwierig und kostenintensiv zu behandeln sind.
Grundprinzipien der Fibrinolyse
Das Endprodukt des Gerinnungsprozesses ist ein stabiles Gerinnsel, das im weiteren Verlauf abgebaut werden muss, um die Lichtung des verstopften Gefäßes wieder freizugeben.
Dieser Prozess obliegt der Fibrinolyse. Sie ist – wie die Gerinnung – eine kaskadenartig arbeitende Enzymkette.
Sowohl mit Beginn des Aktivierungsprozesses der Gerinnung, aber auch durch endothelständige Aktivatoren wird das Plasminogen – einem Zymogen einer Endopeptidase – in das Plasmin überführt, das seinerseits das gebildete Gerinnsel abbaut.
Störungen der Fibrinolyse können in einer Minderaktivität (Thrombosegefahr) oder in einer gesteigerten Aktivität (Blutungsgefahr) bestehen. Auch hier ist eine differenzierte Diagnostik der beteiligten Komponenten mit gegebenenfalls molekularbiologischen Zusatzuntersuchungen erforderlich.
Betreuung von thrombemboliegefährdeten schwangeren Patientinnen
Eine besonders wichtige Aufgabe des Hämostaseologen umfasst die Betreuung thrombemboliegefährdeter Schwangerer, bei denen Aborte oder andere schwerwiegende Komplikationen – wie das HELLP-Syndrom – auftreten können.
Die intensive Beratung und langfristige Überwachung dieser Patientinnen während einer notwendigen antikoagulativen Therapie komplettieren diesen Tätigkeitsschwerpunkt eines Hämostaseologen.
Fazit
In Summe ist festzustellen, dass sich die Arbeit eines Hämostaseologen – wie eingangs erwähnt – grundlegend von der eines Laborarztes unterscheidet.
Während der Labormediziner Aufträge anderer Kollegen zur Abarbeitung annimmt, Laborbefunde erstellt und diese meist unkommentiert an den einsendenden Kollegen weitergibt, grenzt sich die Tätigkeit des Hämostaseologen durch folgende Faktoren erheblich ab:
- Der Hämostaseologe hat direkten Kontakt zum Patienten. Er erhebt persönlich die Anamnese und untersucht die andernorts verordnete Medikation auf etwaige schädigende Einflüsse auf die Hämostase.
- Als Experte für Hämstoseologie legt er das erforderliche Untersuchungsprogramm fest.
- In seinem Labor werden unter Aufsicht des Hämastoseologen alle erforderlichen Untersuchungen von speziell geschulten MTAs durchgeführt. Nach der technischen Validation erhebt der Hämostaseologe seinen Befund, in dem er die Vorgeschichte des Patienten mit den erhobenen Daten seines Labors zusammenführt.
- In dem folgenden Patientengespräch erklärt der Hämostaseologe dem Patienten den erhobenen Befund und die sich daraus ergebenden therapeutischen Konsequenzen.
- Bei erforderlichen therapeutischen Eingriffen in den Gerinnungsprozess überwacht der Hämostaseologe den Patienten weiter und steuert die Therapie. Gemeinschaftslaboratorien, die von den niedergelassenen Kollegen genutzt werden, sind in der Regel hierzu nicht im Stande.